Marengo hat geschrieben:JJ bastelt sich darüber hinaus einen Mix, der das, was Anno 78 aus den Boxen dröhnte, nicht ansatzweise trifft. Martins Gitarre war "piercing". Leider kann ich hier nix hochladen, sonst würde ich zwei Stücke der Stormwatch Tour anbieten als Referenz, wie Tull geklungen haben. Nicht, weil ich die Aufnahmen gemacht habe, aber weil sie den 70er Jahre Tull-Sound gut abbilden. Meine Augen mögen taub, meine Ohren blind und meine Demenz fortschreitend sein, but i fucking well know how it sounded...
Hier handelt es sich offenkundig um ein Missverständnis. Die Signale von der Bühne, die auf dem 24-Track landeten, dürften kaum über den FOH-Mischer gelaufen sein. Warum eine potenzielle Rauschquelle, zumal in analogen Zeiten, dazwischen schalten? Was für eine Art Material sich auf den Bändern befindet, mit dem JJ gearbeitet hat, kann man sich am besten vorstellen, wenn man dazu DP zitiert:
DP hat geschrieben:Being on stage with Jethro Tull was like being in a drawing room. It wasn't like being with Led Zeppelin or Rainbow or any of those bands, the amps were turned right down, and we could all talk to each other without any problem.
Ich kann das bestätigen, habe ich doch 1993 in Dublin auf dem Sofa gesessen (Für die Spätgeborenen: auf der 25th Anniversary Tour wurden für "Songs From The Wood" ein paar Gäste aus dem Publikum geholt, die dann auf einem Sofa, das sich rechts auf der Bühne befand, Platz nehmen durften und den Eröffnungschor mimen sollten - ich habe nicht gemimt, sondern gesungen, was ein anderer Sänger nicht so toll fand. Ähem.).
Auf den Bändern ist also relativ zahmes Zeug und das hört man eben. Auf "Tull's Tractor Tales", einer historischen Publikumsaufnahme aus Berlin, hört man den schneidenden Hallensound von MBs Gitarre und die rumpelnden Drums von Barrie sehr gut, albeit in nicht so toller Qualität.
Ich finde die Bern-Aufnahme trotzdem gut und interessant, sowohl für sich stehend, als auch im Vergleich mit "Bursting Out". Auf das Intro mit Flöte hatte ich oben schon hingewiesen, aber es gibt noch viel mehr zu entdecken, was allerdings auch hin und wieder Fragen aufwirft. Fangen wir mit Grundsätzlichem an:
Stereo-Panorama
Vom Publikum aus gesehen, waren die Instrumente auf der Bühne von links nach rechts wie folgt verteilt: DP (Synthies, Portative Pipe Organ), Brittledick (Bass), Barrie (Drums) - davor IA, dann MB (E-Gitarre), John Evans (Hammond, Synthie, Piano). "Bursting Out" wurde aus Publikumsperspektive gemischt. Bern eher nicht. Eher nicht, weil hier die Instrumente oft die Plätze tauschen. Besonders augen- bzw. ohrenfällig wird dies bei Conundrum. Auf "Bursting Out" hört man DPs kontrapunktisches Spiel zu MBs Gitarre ganz links (wenn auch nur sehr leise), während rechts John Evans ordentlich in die Orgel haut. Auf der Bern-Aufnahme ist das Panorama vertauscht. Hier hört man DP nun rechts, dafür aber deutlich deutlicher. Dieser seltsame Mischmasch zieht sich durch die ganze Aufnahme. Meine Vermutung ist, dass JJ versucht hat, mittels neuer Verteilung der Instrumente ein ausgeglicheneres Klangbild zu bekommen.
Merkwürdiges
Nehmen wir No Lullaby. Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, wurde das Stück auf der Heavy Horses Tour in Gänze gegeben, also gewissermaßen doppelt. Auf "Bursting Out" und "Bern" aber findet sich nur die Hälfte. Und auf letzterer fehlt das Ende fast vollständig. Es gibt eine merkwürdige Pause zwischen No Lullaby und Sweet Dreams. Warum? Waren MB und die anderen so sehr an die volle Version gewöhnt, dass sie gewissermaßen nach einer Halbzeit das Finale nicht mehr in den Fingern hatten?
No Over-dubs?
Dieses Thema wurde hier auch schon diskutiert. Und die Anwort ist nun klar. Auf Skating Away spielt MB bekanntlich die Marimba. Im ersten Teil übernimmt Brittledick die E-Gitarre, kehrt aber in der dritten Strophe an den Bass zurück. Wer spielt aber dann die Gitarre auf der "Bursting Out" Version? Nach dem Buch von Bern, niemand. MB bleibt schön bei der Marimba und es gibt einfach keine E-Gitarre in der dritten Strophe. Da ist diese Aussage dann nur mit Zeitablauf zu erklären:
IA hat geschrieben:We went into the studio to undertake some 'fixes' of bad notes or fluffs but not, to my recollection much in the way of replacement and certainly not any additions implied by the term 'overdubs'.
Macht ja nix.
Bern (und nicht Berne. Berne ist ein Ortsteil von Farmsen und Farmsen ist ein Ortsteil von Rahlstedt, in den 70er Jahren der größte Stadtteil Europas. Berne hat außerdem die letzte U-Bahn-Station vor den Walddörfern und Tull haben da mit Sicherheit nie gespielt) ist trotz des rohen Sounds sehr interessant und hat einen hohen Unterhaltungswert, ebenso wie die anderen JJ Mixe, auch wenn ich mich hier und da mit dem Sound etwas schwer tue (Lutetia springs to mind). Die Bucheditionen haben immer ihre zwei Seiten. Einmal den neuen Mix von SW und den Blick in die Geschichte. Und letzterer sollte nicht geschönt werden. Wenn also die Live-Aufnahmen nicht mehr hergeben, müssen wir das akzeptieren. Wenn sie in den Schönheitssalon geschickt worden wären, hätten sie vermutlich viel von ihrer Authentizität eingebüßt. Also Ohren auf und durch.
KH