Heute vor genau 29 Jahren besuchte ich mein drittes Tull Konzert und das zweite auf der Heavy Horses Tour.
Nach dem Konzert in der Berliner Deutschlandhalle hatte ich meine Mutter darüber informiert, dass sie sofort in eine Vorverkaufsstelle zu gehen hatte, um mir eine Karte für Kiel zu kaufen (Wagner). Es muss damals der Enthusiasmus eine gewisse Autorität in meine Stimme gelegt haben, denn meine Mutter tat, wie ihr geheißen.

Am 2. Juni 1978 machten mein Kumpel Markus und ich uns auf den Weg nach Kiel. Seine Mutter, eine Schwedin, fuhr uns stilgerecht in ihrem Volvo über Landstraßen in die schleswig-holsteinische Landeshauptstadt. Meinem Vater und seinem alten Käfer kam es übrigens zu, uns hinterher wieder abzuholen. Manchmal wünschte ich, das wäre heute noch so. Wie angenehm war doch das Reisen damals.
Wir erreichten die Ostseehalle (ein schmuckes Stück Architektur, wenn man im Geiste gerne Bauwerke einreißt) rechtzeitig genug, um uns vor der Halle in die erste Reihe der Wartenden zu stellen. Dies war damals enorm wichtig, denn die Hallen waren bestuhlt (wie zuletzt die Halle Münsterland im Jahre 1992), es gab aber keine Platzkarten. Wer also zuerst in die Halle stürzte, hatte für ungefähr 300stel Sekunden die freie Platzwahl. Nach einer endlosen Wartezeit öffneten sich endlich die Tore und das Rennen begann. Das Personal riss lediglich die Karten ab. Einen Blick in Tüten und Taschen oder gar eine Leibesvisitation, wie heute üblich, gab es nicht. Selbstmordattentäter hießen damals auch noch Kamikazeflieger, und die wären mit ihren Flugzeugen vermutlich nicht am Sicherheitspersonal vorbei gekommen. Die großen (und schnelleren) Jungs hatten uns um die Plätze in der ersten Reihe Mitte geschlagen, aber wir bekamen einen Platz, der mir später lieb und teuer wurde, nämlich eher rechts von der Bühnenmitte, dort, wo Martin Bruno Bär seinen Auftritt hatte und John Evans seine zwei Tasteninstrumente bediente.
Wir machten es uns bequem, denn bis zum Konzertbeginn sollte es noch über eine Stunde dauern. Uns wurde aber ein nettes Unterhaltungsprogramm geboten. Schon nach kurzer Zeit betrat John Evans in zivil die Bühne, setzte sich vom Publikum nahezu unbemerkt mit einem Stimmschlüssel und übergestülpten Kopfhörern an sein E-Piano, und begann, das gute Stück zu stimmen. Waren das Zeiten. Es gibt davon sogar ein Foto, das ich mit meiner gebraucht erworbenen und sehr wuchtigen Spiegelreflexkamera gemacht habe, die ich selbstverständlich mitgebracht hatte. Auch das war damals kein Problem (ich habe mit der Kamera auch sehr schlechte Fotos beim Queen Konzert in der Ernst-Merck-Halle im selben Jahr in Hamburg gemacht, ohne von irgendeinem Ordner belästigt worden zu sein – im Gegenteil, einer ging sogar aus dem Weg, um mir einen freien Blick zu gewähren. Ja, ja, die gute alte Zeit).
Da wir nun unsere Plätze hatten, wechselten wir uns mit dem Bewachen derselben ab und schlenderten durch die Halle. Um den Merchandising Stand (der damals noch anders hieß – wahrscheinlich Souvenirladen oder so) machte ich einen großen Bogen, weil meine Finanzen äußerst beschränkt waren. Außerdem hatte ich mir schon in Berlin ein Poster gekauft, für mehr hat’s damals nicht gereicht. Und Programme gab es damals nicht, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, was aber möglich ist.
Eine Besonderheit der Ostseehalle war, dass sie damals in der Breite bespielt wurde, die Bühne also nicht am Kopfende der Halle stand sondern mittig an einer Seitenwand, an der es entweder keine Sitze gab oder man diese abgebaut hatte. Rechts und links von der Bühne gab es also reichlich Platz, was auch notwendig war, weil die Bühne hinten fast an der Wand stand. So konnte ich im rechten Bühnennebenbereich dann auch ein schönes Foto von drei großen Ballons machen. Die standen dort aufgeblasen rum.
Der Konzertbeginn war auf 21.00 Uhr verschoben worden, denn die Halle ließ sich nicht abdunkeln und im hohen Norden ist es auch ohne Sommerzeit (die gab es damals noch nicht) um acht noch sehr hell. Gegen zehn nach neun erschall das Intro aus der PA (das war übrigens Quartet, nachzuhören auf Nichtcap - allerdings nur der letzte Teil, der nach der Chorpassage kommt). Während des Intros erlosch das Licht (the old man in the sky kam seiner Pflicht nicht nach, draußen war es nämlich immer noch hell) und Martin Barre schlenderte im Morgenmantel mit Nachtmütze (Nighcap?) und Zigarettenspitze im Mund rauchend auf die Bühne, riss seine neue Hamar auf und begann zu rocken. Nach einem Durchgang des Themas setze Brittledicks Bass ein und die zweite Gänsehaut gesellte sich zu der ersten auf meinem Rücken. Wer dieses Intro nachhören möchte, dem empfehle ich eine historische Aufnahme, wie etwa Tull’s Tractor Tales, denn die Aufnahme auf Bursting Out wurde im Studio kräftig bearbeitet. Eine Flöte hörte man im Intro damals nicht, weil Anderson seinen großen Auftritt erst mit der ersten Strophe von No Lullaby hatte – und was für ein Auftritt. Dynamisch kam er von der rechten Bühnenseite und ließ sich von links die Flöte zuwerfen, fing sie mit links, drehte sich zum Mikrophon und… “Keep your eyes open and prick up your ears…“. Waaaahnsinn!
Ob es heute noch möglich wäre, ein Konzert mit einem Song wie No Lullaby in seiner VOLLEN LÄNGE zu beginnen? Ich habe da meine Zweifel.
Damals besaß ich lange nicht alle Tull Platten (ich schloss meine Sammlung regulärer Veröffentlichungen im Herbst 1978 mit WarChild ab), doch Living In The Past gehörte damals schon dazu. Dennoch hatte mich Sweet Dream kalt erwischt, denn live hörte sich das doch ganz anders an, so dass ich das Stück in Berlin überhaupt nicht erkannt hatte. In der Zwischenzeit hatte ich es nachgehört und so hörte ich nun umso intensiver zu. Was für ein Rocker. Auch hier empfiehlt sich eine historische Aufnahme, um die ganze Wucht von Martins Hamer zu begreifen. Bursting Out ist da nur bedingt tauglich.
Skating Away war für mich Neuland (siehe oben), aber ging natürlich herrlich ins Ohr.
Jack-In-The-Green war das erste Stück von Tull, das ich öffentlich zu Gehör brachte, nämlich ca. zwei Wochen später in der Fußgängerzone von Göttingen. Das ganz und gar nicht wohlwollende Publikum riet mir allerdings, meine Übungen zuhause fortzusetzen. Ich kann es verstehen. Lieder von Reinhard Mey konnte ich damals besser spielen.
Heavy Horses hatte ich mir gleich nach Erscheinen zugelegt und kannte die Platte mittlerweile in- und auswendig. One Brown Mouse und Heavy Horses waren für mich daher Höhepunkte auf dieser Tournee, aber natürlich auch das damals fest zum Programm gehörende FLÖTENSOLO. Zugegeben, im Laufe der Jahre habe ich mir das Gepuste und Gepruste etwas über gehört, aber damals war auch das unbedingt ein Höhepunkt und für viele sogar DER Höhepunkt eines Tull Konzerts.
Living In The Past (das Tull laut Aussage I.A. auf der Crest Tour “since 1969“ nicht gespielt haben) wurde natürlich schon stark variiert, war aber doch klar zu erkennen, auch als Instrumental.
Ich springe ans Ende dieses unvergesslichen Konzertes. Bei Loko rockerte Anderson damals noch richtig über die Bühne bzw. auch vor der Bühne. Das Publikum stand natürlich längst auf den Stühlen und wir an der Absperrung vor der Bühne. Beim großen Finale turnte Herr A. dann direkt vor uns und – welch Segnung – ich bekam einen Schweißtropfen auf die Hand! Im Übrigen war ich albern genug, Andersons ebenso alberne Handbewegungen zu imitieren und obwohl er mich dabei ansah, glaube ich nicht, dass er mich wahrnahm. Er schien merkwürdig entrückt, aber auch sehr erschöpft. Ich glaube, da war damals auch schon eine Menge Automatismus dabei, denn die Konzerte einer jeden Tour ähnelten sich sehr.
Dann war Schluss. Die Ballons waren abgeworfen und kurz Zeit später explodiert – die Halbwertzeit der Dinger war deutlich kürzer als heute. Außerdem sahen sie aus wie aufgeblasene Kondome. Nicht die Form, aber das Material.
Kurze Zeit später schlenderte mein alter Herr in die Halle und verfrachtete uns in den Käfer, mit dem wir ein Jahr später bis zum Nordkap und zurück zuckeln sollten.
Ein schöner und wie man sieht unvergessener Abend. War doch irgendwie alles besser, damals. Only kidding. Oder nicht? Ich glaube, ich kucke jetzt erstmal eine Folge Time Tunnel (DVD hat mir ein Freund gerade aus L.A. mitgebracht – was für’n geiler Trash),
Heute abend, so gegen zehn nach acht (Sommerzeit!) werde ich mir Tull’s Tractor Tales einlegen und noch ein bisschen schwelgen.
Tudelu!
KH
P.S.: Glückwunsch an den Vfl Osnabrück – Osnabrück ist eine schöne Stadt. Sie liegt in einer Gegend. Viele Häuser zieren das Weichbild. Umpf.